„Die Scham muss die Seite wechseln“
Als erste Aktion der Kampagne wird dieser Aufruf ab dem 16.12.2024 auf den Bielefelder roadscreens zu sehen sein. Weitere Aktionen zur Sensibilisierung werden im nächsten Jahr folgen und hier angekündigt werden.
„Die Scham muss die Seite wechseln!“
Mit diesem Satz hat Gisèle Pelicot, die selbst Opfer von massiver und langjähriger sexualisierter Gewalt durch ihren Ehemann und zahlreiche weitere Täter wurde, der feministischen Bewegung und allen Gewaltschutzorganisationen international neuen Aufwind gegeben.
Einen Wind, der dafür sensibilisiert, dass die Richtung stimmen muss, wenn eine Gesellschaft auf sexualisierte Gewalt reagiert.
Einen Wind, der anmahnt, wie dringend notwendig es ist, dass die Gesellschaft und wir alle unseren Blick ändern. Das geht uns alle an! Das ist unsere gemeinsame Aufgabe!
Durch Pelicots „schonungslose“ Offenlegung ihrer Geschichte in Worten und in Bildern ist etwas Neues entstanden, das sowohl Betroffenen Mut und Stimme gibt als auch der Bewegung neue Kraft und Hoffnung auf gesellschaftliche Veränderung.
Eine Kraft und Hoffnung, die dringend notwendig ist als Antwort auf und Gegenmacht zur allgegenwärtigen Lethargie, Ohnmacht, Schweigen, Deckelung und Normalisierung von sexualisierter Gewalt an Mädchen und Frauen.
„Die Scham muss die Seite wechseln!“
Was ist damit eigentlich genau gemeint?
Es ist gemeint, dass die Ausübenden von sexualisierter Gewalt, alle Täter, Mittäter, Mitwissenden und Untätigen sich schämen müssten und nicht die Opfer, Betroffenen und Leidtragenden.
Noch immer ist es wahrscheinlicher in unserer Gesellschaft, dass nach bekannt gewordener sexualisierter Gewalt an Mädchen und Frauen laut, subtil oder im Stillen gefragt wird: Wie ist es denn dazu gekommen? Hat sie sich denn gewehrt? Was hatte sie an? Wieso war sie denn dort? Wieso war sie denn mit dem? Hat sie vielleicht falsche Signale gesetzt? Konnte er denn wahrnehmen, dass sie das nicht wollte? Warum hat sie nicht gelernt sich zu behaupten? Warum passiert immer ihr so etwas? Warum hat sie sich nicht früher Hilfe geholt?
Noch immer ist es unwahrscheinlicher in unserer Gesellschaft, dass nach bekannt gewordener sexualisierter Gewalt an Mädchen und Frauen laut, subtil oder im Stillen gefragt wird:
Wie konnten dem so lange keine Grenzen gesetzt werden? Wie konnte der von so vielen in seinen Taten unterstützt werden? Wie kann es sein, dass es so viele Täter unter uns gibt? Wie kann es sein, dass der Vater, Opa, Nachbar, Kollege etc. so gewaltvoll, verantwortungslos und manipulativ ist etc.? Wieso haben Verwandte, Freund*innen und Kolleg*innen geschwiegen? Wie konnte das so lange unbemerkt bleiben? Wieso hat er sich keine Hilfe geholt? Wieso hatte er kein Vorbild für Respekt, Achtung und Gewaltfreiheit? Wieso ist es so schwer, gewaltvolle Strukturen und deren Weitergabe zu verändern? Wo gibt es Täterschaftsprävention und Hilfen für Täter*innen?
„Die Scham muss die Seite wechseln!“
Was ist noch damit gemeint?
Dass wir alle aufhören, Mädchen, Frauen und allen anderen Betroffenen von sexualisierter Gewalt zuzumuten, dass sie aufgrund von gesellschaftlich falscher Reaktion zusätzlich beschämt werden, indem ihnen nicht geglaubt wird, eine Mitschuld unterstellt wird, sexualisierte Gewalt verharmlost, bagatellisiert, normalisiert wird und Verantwortung verlagert und umgedreht wird.
Dass eine Gesellschaft lernt, Betroffenen ein haltgebendes Gegenüber zu sein statt zu tabuisieren und nicht wahrhaben zu wollen.
Dass eine Gesellschaft sich schämen sollte, wenn es nicht gelingt, Gewalt gegen Mädchen und Frauen dauerhaft und nachhaltig zu reduzieren.
Dass es nicht reicht, Schutz und Unterstützungsangebote für Betroffene von sexualisierter Gewalt anzubieten, sondern konsequent und planvoll Angebote vorgehalten werden müssen, die zur (Rückfall-)Prävention von sexualisierter Gewalt durch unterschiedliche Tätergruppen geeignet sind.
Was ist nicht damit gemeint?
Dass Betroffene sich für ihre Scham schämen. Scham ist die Hüterin der Grenze des intimen Raumes. Es ist normal, dass die Scham sich meldet, wenn die Grenze übergangen, ignoriert oder mit Gewalt durchbrochen wird.
Hinweis: Im Text wird sowohl vorwiegend von Tätern und nicht von Täter*innen gesprochen als auch von Mädchen und Frauen als Betroffene, da dies der vorwiegenden Konstellation unserer Arbeit und auch dem aktuellen Lagebild „Geschlechtsspezifisch gegen Frauen gerichtete Straftaten" entspricht (ca. 98% der Tatverdächtigen bei Sexualstraftaten an Mädchen und Frauen sind männlich, Quelle https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/pressemitteilungen/DE/2024/11/lagebild-geschlechtsspezifische-gewalt.html)
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