Mädchen stärken – vor Übergriffen auf die Selbstbestimmung schützen
Seit 2007 bietet die vom Land Nordrhein-Westfalen geförderte Fachberatungsstelle gegen Zwangsheirat des Mädchenhaus Bielefeld e.V., ein umfangreiches Präventions-, Informations-, und Beratungsangebot für Betroffene, Unterstützungspersonen und Multiplikator*innen aus Nordrhein-Westfalen an.
Das Herzstück des Gesamtprojektes ist das Angebot von 35 bis 40 ein- oder halbtägigen Präventionsveranstaltungen für Mädchen und junge Frauen, welche die Fachberatungsstelle jährlich an weiterführenden Schulen verschiedener Schulformen aus ganz Nordrhein-Westfalen kostenfrei durchführt. Darüber hinaus werden regelmäßig Sonderformate der Prävention wie z.B. Projektwochen angeboten, in welchen sich die Mädchen und jungen Frauen intensiver mit dem Thema Zwangsheirat und auch damit verbundenen oder angrenzenden Themenfeldern auseinandersetzen können. Als zusätzlichen Mehrwert dieser Projektwochen sind bisher eindrucksvolle Ergebnisse entstanden, die als Öffentlichkeits- und Präventionsmaterial eingesetzt werden. Mädchen und junge Frauen ab der 8. Klasse im Alter zwischen 14 und 22 Jahren mit und ohne familiäre Migrationsgeschichte werden mit dem Präventionsangebot in Schulen erreicht. Die interkulturellen Gruppen von 10 bis 12 Mädchen sollten in der Zusammensetzung sehr vielfältig sein, so dass optimaler Weise potentiell oder aktuell vom Thema Zwangsverheiratung „Betroffene“, potentiell „Mit-Betroffene“ wie Partnerin/Freundin/Verwandte sowie auch „Nicht-Betroffene“ im Sinne von Multiplikator*innen für das Thema erreicht werden können. Aufgrund dieser Gruppenzusammensetzung soll eine Stigmatisierung der „vermeintlichen“ Betroffenengruppe vermieden und gleichzeitig die Sensibilisierung für die behandelten Themen bei den Schüler*innen breiter gestreut werden.
Präventionskonzept
Das Präventionskonzept zum Thema Zwangsverheiratung ist modular aufgebaut und hat sich in den letzten 13 Jahren gemäß den veränderten Bedarfen der Mädchen und der Bedingungen an den Schulen verändert und weiterentwickelt.
Mit verschiedenen Methoden und Ansprache-Konzepten werden Themen behandelt, von denen die Erfahrung zeigt, dass diese mit der Möglichkeit der einzelnen Mädchen zusammenhängen, eine drohende Zwangsverheiratung als solche wahrzunehmen, sich gegen eine Zwangsverheiratung zu wehren bzw. sich bei angedrohter oder angekündigter Zwangsheirat professionelle Hilfe zu holen.
Auf diese Weise werden mit den angebotenen Inhalten sowohl primär- als auch sekundärpräventive Ziele verfolgt. Die Mädchen und jungen Frauen sollen über Psychoedukation einen Wissenszuwachs bekommen sowie über kreative und spielerische Zugänge ihre Einstellungen überprüfen, erkennen oder neu entwickeln. Zudem sollen sie durch den konkret erlebten Gruppenprozess Wertschätzung von Vielfalt und Unterschiedlichkeit kennen lernen und emotionale Ermutigung zur Selbstbestimmung und Selbstwirksamkeit erhalten.
Des Weiteren fungiert die Präventionsveranstaltung selbst als ein Türöffner zum vielfältigen Beratungssystem. Um dies zu erreichen, ist es hilfreich, dass die Veranstaltungen im interkulturellen Team (mindestens eine Pädagogin sollte über eine eigene familiäre Migrationsgeschichte verfügen) durchgeführt werden, so dass den Mädchen eine höhere Identifikationsmöglichkeit angeboten wird. Das Beziehungsangebot während der Veranstaltung ist ein wichtiger unspezifischer Wirkfaktor, der einen entscheidenden Einfluss darauf hat, ob die Mädchen und jungen Frauen soweit „erreicht“ werden können, dass sie im Falle der (Mit-)Betroffenheit Hilfe (auf)suchen.
Ziele im Einzelnen
- Empowerment (Stärkung und Aufklärung über Rechte und (Gleich)- Wertigkeit von Mädchen und Frauen)
- Wissenserwerb über Menschenrechte und Menschenrechtsverletzung
- Abbau von Vorurteilen bezogen auf kulturelle und religiöse Zugehörigkeiten
- Auseinandersetzung mit Geschlechterrollen (im interkulturellen Kontext)
- Kenntnisse über Hilfe- und Beratungsmöglichkeiten für Mädchen in Notlagen, insbesondere bei (drohen-der) Zwangsverheiratung und Gewalterfahrungen
- Ermöglichung neuer Erfahrung von gegenseitigem Respekt, Begegnung, Solidarität (statt Kontrolle), Verständnis und Unterstützung in einem geschützten Rahmen
- Erleben von Wertschätzung verschiedener kultureller und religiöser Zugehörigkeiten
- Persönlicher Austausch über Themen wie z.B. Liebe, Partner*innenwahl, Lebensplanung, Sexualität, Selbstbestimmung, Bedeutung der Berufstätigkeit, weibliche Identität, Gleichberechtigung der Geschlechter etc.
- Abbau von verinnerlichten und/oder erzwungenen ungleichberechtigten Geschlechterrollenerwartungen
- Ressourcenaktivierung und Erweiterung von vorstellbaren Handlungsoptionen
- Abbau von Mythen über Jungfräulichkeit, Homosexualität, sexualisierte Gewalt
- Auseinandersetzung mit psychosozialen Folgen einer ungewollten Ehe
- Abbau von Hürden und Vorurteilen bezüglich spezifischer Beratungsangebote
Wirksamkeit
Die Wirksamkeit von Präventionsmaßnahmen zu bestimmen, ist grundsätzlich ein schwieriges Thema, insbesondere bei einem schambesetzten Thema wie Zwangsverheiratung, bei dem die Dunkelziffer der Betroffenen hoch ist. Darüber hinaus ist die Frage, welche Wirksamkeitsindikatoren betrachtet werden und in welchem Zeitraum.
Die Präventionsveranstaltungen werden bewusst ab der 8. Klasse durchgeführt, damit potentiell Betroffene möglichst frühzeitig erreicht werden, bevor das Thema bei ihnen aktuell wird.
Aufgrund unserer eigenen statistischen Auswertung lässt sich sagen, dass ca. 25% der Ratsuchenden, die Angaben darüber machen, über wen sie von unserem Beratungsangebot erfahren haben, benennen, über die Schule von uns erfahren zu haben. Des Weiteren können wir feststellen, dass aus den Städten, in denen schon Präventionsveranstaltungen angeboten wurden, die Anfragen steigen oder höher liegen. Während der Veranstaltungen eröffnen Teilnehmerinnen immer wieder, dass sie von den angesprochenen Themen betroffen sind oder Personen kennen, die davon betroffen sind. Darüber hinaus wird oft deutlich, dass viele Mädchen und junge Frauen unter großem Druck stehen, die familiären Erwartungen zu erfüllen, so dass die eigenen Wünsche und Bedürfnisse kaum Entfaltungsmöglichkeiten haben.
Aus der Beratungsarbeit wird deutlich, dass es sich schützend auswirken kann, sich über die eigenen Wünsche und Ziele klarer zu werden und auch ggf. wahrzunehmen, wo familiäre Strukturen diesen entgegenstehen.
Mädchen und junge Frauen haben durch mehr innere Klarheit eine größere Möglichkeit, ihren vorgegebenen Handlungsspielraum besser auszuschöpfen, für eine Er-weiterung im familiären Kontext zu kämpfen bzw. bei Begrenzung mit gewalttätigen Methoden durch die Familie frühzeitiger Hilfe und Unterstützung im Außen zu suchen. Wenn Präventionsveranstaltungen einen Anstoß in Richtung Klarheit und Handlungssicherheit geben, kann dies individuell von großer Bedeutung sein. Gleichzeitig darf nicht ausgeblendet werden, dass der Präventionsarbeit, die bei den Mädchen und junge Frauen ansetzt, sicherlich auch Grenzen gesetzt sind. Gerade die Druck ausübenden Familienmitglieder müssten ihre Einstellungen und ihr Verhalten ändern, damit die Mädchen und jungen Frauen erst gar nicht in die Not geraten, sich gegen eine Zwangsheirat wehren zu müssen bzw. eine Entscheidung für oder gegen die Familie treffen zu müssen, wenn sie ihre/n Partner*in selbst aussuchen möchten. Gesellschaftliche Veränderungsprozesse sind immer noch dringend erforderlich damit geschlechtsspezifische Gewalt beendet wird und allen Mädchen und Frauen das Menschenrecht auf freie Partner*innenwahl und Selbstbestimmung zu Teil wird.
0521 5216879
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